Die 60er Jahre waren wild, die 60er Jahre waren frei – und Frau Schneider ist in den 60er Jahren geboren. So weit so gut. Frau Schneider fühlt sich auch frei, nimmer ganz so wild aber trotzdem noch jung. Aber das Baujahr 6x hat zur Folge, dass der 50. Geburtstag immer näher rückt. Und damit der gesellschaftliche Stempel, zum alten Eisen zu gehören. Generation 50+! Frau Schneider fühlt sich aber nicht dieser Generation zugehörig – nein, sie wehrt sich vehement dagegen, kategorisiert zu werden, nur weil Ihre Eltern ihr Geburtsjahr unbedingt in die 60er Jahre legen wollten.
50+, das klingt nach Filzpatschen, Kittelschürzen, organisierten Bus- oder Kreuzfahrten und nach Kamillentee. Frau Schneider liebt aber High Heels, Reisen auf eigene Faust und Mojitos! Und sie hat auch nicht vor, auf das alles zu verzichten, nur weil statt einem 4er ein 5er vor der Altersangabe steht. Und außerdem was soll das Schubladisieren? Alter ist sowieso immer eine Einstellungssache und nicht die Anzahl der Jahre, die seit der eigenen Geburt vergangen ist. Frau Schneider ist schon einigen 30 jährigen begegnet, die sich konservativer und gesetzter benommen haben als ihre eigene Großmutter. Sie hat aber auch Menschen in ihrem Freundeskreis, die die 60 schon weit überschritten haben und sowas von agil, beweglich und lustig unterwegs sind – sowohl körperlich als auch geistig. Darum antwortet Frau Schneider, wenn sie nach ihrem Alter gefragt wird, dass sie sich der 40 nähert – aber nicht aus welcher Richtung. Das Schöne an der Antwort ist, dass sie nicht einmal gelogen ist.
Außerdem geht dieses blöde Kategorisieren Frau Schneider gehörigen auf die Socken. Männer werden interessant, wenn sie die 50 überschritten haben und sind tolle Hengste, wenn sie ihre „alten“ Frauen gegen jüngere austauschen. Wenn Frauen über in ihre 50er kommen, dann dürfen sie nur mehr ihre Wechseljahre genießen und falls sie auf die Idee kommen, ihren „alten“ Mann zu entsorgen, das Leben zu genießen und sich womöglich einen Liebhaber zuzulegen, dann sind sie komische alte Weiber. Ganz spannender Ansatz – aber leider noch oft weit verbreitet.
Ganz schlimm ist es auch, wenn Frau Schneider zu hören bekommt, dass sie sich einen Mann suchen soll, damit sie nicht alleine ist. Sie ist definitiv nicht alleine, denn Frau Schneider hat das große Glück, Freunde – sowohl weibliche als auch männliche – zu haben. Mit denen kann man reden, weggehen, die hören zu und mit denen kann man Spaß haben. Frau Schneider ist auch in der Lage, alleine das alltägliche Leben zu meistern, vom Reparieren der Klospülung bis hin zum Organisieren von Reisen. Und wenn dann doch einmal der Fall eintritt, dass zum Beispiel Elektroleitungen verlegt werden müssen, dann – siehe oben – hat sie Freunde mit Bohrmaschinen, Flex und den notwendigen Kenntnissen.
Conclusio: Frau Schneider ist 50+ und trotzdem glücklich. Ihre Mutter hat einmal zu ihr gesagt: Wer nicht alt werden kann, muss jung sterben. Eine weise Frau, die Frau Mama. Und da Frau Schneider nicht jung gestorben ist, hat sie vor, recht alt zu werden. Und mit allen Sinnen zu genießen was das Leben so hergibt. Also her damit!
Frau Schneider hatte heute einen harten Tag – viel Denkarbeit, viel Neues schwirrte n ihrem Kopf herum. Zum Gedanken sortieren und auslüften macht sich Frau Schneider trotz Regen und einbrechender Dunkelheit auf zu einem kleinen Spaziergang. Nieselregen, fein und wie ein kühler Schleier, streichelt ihr Gesicht. Das Licht der Straßenlampen taucht die Gehsteige, Bäume und Gärten in ein seltsam unwirkliches, warmes Licht. Der Schatten von Frau Schneider läuft mit ihr mit: wenn sie sich einer Lampe nähert, ist er hinter ihr her, er ist gleichauf, wenn sie im Mittelpunkt des Lichtkegels ist und läuft von ihr davon, je weiter sie sich von der strahlenden Helle entfernt. Bei der nächsten Lampe genau das gleiche Schauspiel: hinterher rennen, begleiten, davonlaufen. Das ist fast wie in einer Beziehung: zuerst läuft einer dem anderen nach, dann begleitet man ihn eine Zeit lang um zum Schluss davonzulaufen. Um es beim nächsten Mal genauso wieder zu machen.
Frau Schneider denkt nach und kommt ins Grübeln. Sind tatsächlich alle Beziehungen so? Nein, sicher nicht alle, aber viele. Tja, der Alltag ist ein Hund, wie man so schön sagt. Da sind dann all die Schmetterlinge, die man im Bauch hatte, ausgeflogen, überbleibt dann oft eine gähnende Leere. Manche Menschen füllen diese Leere damit, dass sie davon laufen – wie der Schatten – und glauben, dass es in der nächsten Beziehung anders ist. Immerhin sind ja auch wieder die Schmetterlinge da. Bis die eines Tages auch wieder davon fliegen. Und dann fängt das Spiel wieder von vorne an… Es gibt aber auch Menschen, die füllen den leeren Raum, den die Schmetterlinge hinterlassen haben, mit Gefühlen, Erlebnissen und Leben. Aber das ist halt Arbeit – und an Beziehungen zu arbeiten, das ist oft anstrengend.
Frau Schneider hat den Park erreicht und geht durch die Dunkelheit. Wie geheimnisvoll und seltsam unbekannt einem Dinge vorkommen können, wenn sie quasi der Realität entrückt sind und in einen nieselregnenden Herbstabend verpackt werden. Die Äste der Kastanien schauen aus wie Arme, die sich in den dunklen Himmel strecken, so als ob sie darauf warten, das eine noch unhörbare Musik anfängt zu spielen und sie mit ihrem Tanz beginnen können. mit ganz viel Phantasie – und die hat Frau Schneider zur Genüge – kann man diese unhörbare Musik dann doch hören. Keine Angst, Frau Schneider fällt nicht dem Wahnsinn anheim, aber diese ungewohnte Dunkelheit bringt ihre Phantasie ins Galoppieren.
Frau Schneider reißt sich los und spaziert weiter. Da – der Kinderspielplatz. Unter Tags belagert von Kindern unter der Beobachtung ihrer Mütter, Großmütter und vereinzelt auch unter der der Väter, liegt er nun verlassen und nieselnass da. Die Klettergerüste, die Schaukeln – in der Dunkelheit wirken sie fast surreal. Da entdeckt Frau Schneider die Gorillarutsche. Wie oft hat sie die Kinder beneidet, wenn sie mit Schwung von einem ans andere Ende „gefahren“ sind. Jetzt ist die Zeit, wieder zum Kind zu werden. Sicherheitshalber einmal links und rechts schauen, ob eh niemand beim ersten Versuch zusieht – nur falls was schief geht. Man will sich ja doch nicht lächerlich machen! Also rauf auf die Rampe, einen kurzen Anlauf und – wusch – rüber ans andere Ende. Fast wie fliegen ist das Gefühl. Hui macht das Spaß. Also nochmals retour, rauf auf die Rampe, ein kurzer Anlauf und wieder rüber ans andere Ende. Das Lachen innen drin wird immer größer und kommt beim dritten „Flug“ raus. So gehts ein paar Mal hin und her – und macht den Kopf von Frau Schneider endgültig wieder frei für neue Dinge. Begeistert von der neuen Kopffreiheit macht sie sich auf den Weg nach Hause. Sie hat für sich ein neues Mittel gegen den Festplattenoverflow im Kopf gefunden: ein paar Minuten einfach wieder Kind sein, mit Schaukeln, Wippen und Gorillarutsche fahren. Die guten Dinge im Leben sind doch wirklich die einfachen.
Frau Schneider hatte nie die Figur einer Ballerina und Untergewicht war nur in Ausnahmesituationen ein Thema. Dafür isst Frau Schneider nämlich viel zu gerne gut. Das Problem, das dadurch entsteht ist, dass sich mittlerweile jeder köstliche Schweinsbraten mit Knödel, jedes Kartoffelgratin, jede Lasagne und jeder Schokokuchen diretissima auf die Hüften zubewegt, um dort ein glückliches Dasein in Form von zusätzlichen Kilos und charmanten Fettpölsterchen zu führen.
Aber jetzt hat Frau Schneider diesen dreisten Dingern den Kampf angesagt. Um ganz ehrlich zu sein, es ist nicht das erste Mal, dass sie das tut. Und zu ihrer Verteidigung muss man sagen, sie hat schon beachtliche Teilsiege errungen. Aber es waren halt immer nur kleinere Schlachten, die sie gewonnen hat, und nie den Krieg. So wie der selige Erzherzog Karl, der zwar Napoleon in der Schlacht bei Wagram besiegen konnte und so der Welt zeigte, dass der französische Kaiser nicht unbesiegbar war, aber es war halt nur eine einzige Schlacht. Nichtsdestotrotz hat er – der Erzherzog und nicht der Napoleon – ein Denkmal mitten am Heldenplatz in Wien bekommen. Das ist sogar das einzige Reiterdenkmal, wo das Pferd nur auf den Hinterbeinen steht ohne dass es durch den Schwanz abgestützt ist. Ein Wunder der Statik!
Aber Frau Schneider schweift ab. Eigentlich geht es um den Kampf der zusätzlichen Kilos auf ihren Hüften. Und da hat Frau Schneider einen Entschluss gefasst. Sie möchte in 30 Tagen mindestens 7 Kilo abnehmen. Erreichen möchte sie das nicht mit Hungern. Nein – dafür isst Frau Schneider viel zu gerne. Sie versucht es mit Sport und Ernährungsumstellung. Ab sofort ist vegane Ernährung angesagt. Und wenn das nicht geht, vegetarisch. Also kein Fleisch mehr, keine leeren Kohlenhydrate.
Und heute hat Frau Schneider beschlossen zu starten. Sonntag ist nämlich ein guter Tag zu beginnen. Findet zumindest Frau Schneider. Laufen war sie schon. Ein guter Beginn. War zwar ein bisschen mühsam, denn getan hat sie schon lange nix mehr. Aber wie gesagt, dass sollte jetzt ganz anders werden. Mittagessen vegan: Zucchini-Spaghetti mit Tomatensauce – und ein bisschen Parmesan, Frau Schneider will ja nicht übertreiben mit dem vegan sein. Dazwischen ein paar Übungseinheiten am PC, ein Text muss nämlich noch ins Reine geschrieben werden. Dann ist wieder körperliche Betätigung angesagt – der Nussbaum in Nachbars Garten beginnt kontinuierlich sein Laub abzuwerfen. Heißt im Klartext: immer dann, wenn man die herabgefallenen Blätter zu einem wunderbaren Haufen aufgetürmt und dann in der Biotonne entsorgt hat, beginnen die nächsten Blätter vom Baum zu rieseln. Aber was soll’s. Frau Schneider tut wenigstens was an der frischen Luft.
Frohen Mutes und Stolz auf ihr Durchhaltevermögen setzt sich Frau Schneider auf die Couch, um alte Zeitungen auszusortieren und endlich das Buch zu lesen, das mit seiner Geschichte schon so lange darauf wartet, gelesen zu werden. Und da passiert es. Wie aus dem Nichts sind Marzipanstücke, umhüllt mit köstlicher Bitterschokolade, aufgetaucht. Die, die immer kurz vor Weihnachten – also Ende August – in den Regalen der Supermärkte auftauchen. Frau Schneider kämpft – mit sich, ihrem Gewissen und der süßen Versuchung. Tja, was soll man sagen: gegen Marzipan in Bitterschokolade ist selbst die stärkste Frau machtlos. Frau Schneider ergibt sich also ihrem Schicksal und genießt. Das Leben soll doch ein Genuss sein – und vegan kann man auch morgen noch sein.
Also, Frau Schneider kennt Konstantin Wecker schon länger. Natürlich nicht persönlich, aber hin und wieder taucht das eine oder andere seiner Musikstücke in ihrem Leben auf und begleitet sie über eine kurze oder längere Zeit.
Jetzt ist plötzlich ein neues – zumindest für sie neues – Lied von Konstantin Wecker in ihrem Leben aufgetaucht und hat sie eingefangen. Die Stimme, der Text und die Melodie, diese Kombi war es, die Frau Schneider lächeln lässt – aus tiefster Seele, voller Beglückung. Und Frau Schneider fängt an, daran zu glauben, dass es doch noch irgendwo die Liebe gibt, Was ein einfaches Musikstück so alles bewegen kann. Ist das nicht schön?
Und damit alle wissen, worüber Frau Schneider spricht, hier dieses Liebeslied zum Anhören: „Weil ich dich liebe“
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Herrlich – Sonntag morgen und Frau Schneider wacht auf. Ein Blick auf den Wecker: 6:15! Ein Blick aus dem Fenster: strahlender Sonnenschein! Mit einem Wort der passende Motivationsschub für einen Morgenlauf. Also rein in die Laufschuhe und raus ins Freie. Die Luft ist noch angenehm kühl und Frau Schneider merkt, dass sie ihren Laufrhythmus findet. 1,2 – einatmen, ausatmen. Cool! Und es geht noch – trotz der langen Laufabstinenz. Die ersten 200 Meter schafft sie ohne gröbere Beschwerden, sie überholt mit Leichtigkeit die ältere Dame mit ihrem Hund und grüßt diese freundlich mit einem „Guten Morgen“. Und erntet einen erstaunten Blick. Grüßen am Morgen? In der Stadt? Wildfremde Leute? Geht gar nicht! Frau Schneider denkt sich nix dabei und läuft hochmotiviert in ihrem Tempo weiter. OK, es kann sein, dass eilende Fußgänger sie überholen würden, aber es Sonntagmorgen und es sind außer hundeäußerlführernde Menschen, Walker und Jogger keine Leute unterwegs. Weiter gehts, Richtung Steinhof, rund um die Mauer. Ah, da kommen die ersten Walker, ein älteres Paar. Wieder wünscht Frau Schneider einen guten Morgen – und erntet zuerst einen erstaunten Blick und dann ein gemurmeltes „gtnmg“ von der Frau. OK, das klingt wie eine Aufforderung zu einem Experiment. Frau Schneider beschließt ab sofort jedem, dem sie bei ihrer Laufrunde begegnet, mit einem Lächeln und einem geschmetterten „Guten Morgen“ zu begrüßen. Und da naht auch schon das nächste Opfer in Form eines männlichen Joggers. Aber noch ehe Frau Schneider etwas sagen kann, grüßt er sie. Oh super! Das ist aber nett – natürlich wünscht Frau Schneider auch einen schönen Tag und bedankt sich mit einem strahlenden Lächeln. Es gibt anscheinend doch noch freundliche Leute. Leicht und beschwingt läuft Frau Schneider in den Sommermorgen hinein. Bei der ersten Steigung ist Gehen angesagt, sie will sich doch nicht gleich bei der ersten körperlichen Betätigung überanstrengen.
Keine Menschenseele weit und breit, nicht einmal ein Hund lässt sich blicken. Aber dafür trällern und zwitschern die Vögel in den Bäumen und irgendwo hämmert ein Specht wie verrückt auf einen Baum ein. Der Himmel ist strahlend blau, die Luft rein und klar und ein Gefühl, beinahe wie Fliegen stellt sich ein. Schon ist der Eingang zu den Steinhofgründen erreicht. Hier wird sich das Gruß-Experiment sicher fortsetzen lassen, da ist Frau Schneider sich sicher. Also verfällt sie wieder in den gemächlichen Trabschritt. Und – Hurra, der nächste Läufer kommt in Sicht. Nein, Irrtum – es ist eine Läuferin. Auch sie trabt frohen Mutes in der frischen Morgenluft – und lächelt, als Frau Schneider sie grüßt. Dann läuft ein Pärchen vorbei – er grüßt laut und deutlich, sie schaut nur verbissen. Auch gut. Dann wieder eine Dame, die vorbeiläuft. Schon möchte Frau Schneider sie grüßen, aber diese starrt verbissen auf den Boden. Sie läuft so, als ob sie jeden Stein am Weg zertreten möchte, als wäre es eine schwere Pflicht, diesen herrlichen Morgen zu ertragen. Pfau – das ist dann selbst für Frau Schneider zu viel. Sie beschließt, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Bergab läuft es sich eindeutig leichter als bergauf. Da tut sich der Radfahrer, der ihr auf dem Gehsteig entgegen schnauft, schon wesentlich schwerer. Ein letzter Versuch – Frau Schneider lächelt und grüßt. Und verursacht beinahe einen Unfall, so erschrocken ist der Fahrradfahrer.
Fazit: Manchmal kann man Menschen ganz schön überraschen, wenn man freundlich lächelt und grüßt. Manche Mitmenschen sind darüber erfreut, manchen ist es egal und manche stört man. Aber Frau Schneider hat es genossen. Und sie wird weiter laufen gehen, weiter lächeln und weiter grüßen. Also falls Sie einmal in den westlichen Bezirken Wien einer lächelnden, grüßenden Läuferin begegnen, dann könnte es sich um Frau Schneider handeln.