Selbstverwirklichung

Der Weg der kleinen Schritte

Selbstverwirklichung ist ein vielzitiertes und vielstrapaziertes Schlagwort. Hunderte Seminare werden zu
diesem Thema angeboten und noch mehr Bücher darüber geschrieben. Doch nicht immer ist ganz klar, was wirklich dahinter steht. Wie würden denn Sie Selbstverwirklichung erklären? Was bedeutet Selbstverwirklichung für Sie persönlich?

Viele Menschen setzen Selbstverwirklichung gleich mit Karriere, manche verstehen darunter, dass sie einen ganz eigenen ausgefallenen Weg gehen – meist in künstlerischen Bereichen. Oft wird man belächelt, wenn man sich
selbstverwirklicht, obwohl bei so vielen von uns dieser Wunsch vorhanden ist. Wenn man das Wort in seinen Einzelteilen betrachtet, dann hat es mit dem eigenen Selbst und der Wirklichkeit zu tun. Geht es also bei Selbstverwirklichung darum, das eigene Selbst in der Wirklichkeit zu leben? Das bringt uns zur nächsten Frage: was ist denn mein Selbst? Wie erkenne ich mein Selbst?

Unser Selbst ist die leise Stimme in uns, auf die die meisten viel zu selten hören. Diese Stimme ist das unangenehme Bauchgefühl bei Entscheidungen, die wir treffen und von denen wir vorher schon wissen, dass sie nicht die richtigen sind. Es ist die innere Ruhe, die wir spüren, wenn wir am richtigen Weg oder am richtigen Ort mit den richtigen Menschen sind oder die Momente, wo uns etwas tief berührt. Aber es ist das Gefühl des Widerwillens, wenn wir etwas tun, was wir nicht tun möchten. Jeder von uns kennt solche Situationen und viele von uns kennen Situationen, wo wir unser Selbst „vergewaltigen“, es zu etwas zwingen, was wir gar nicht tun wollen. Die Beweggründe dazu können vielfältig sein.

Als Kinder waren wir sehr nahe an unserem Selbst. Im Laufe der Jahre, in denen wir mit dem Erwachsenwerden beschäftigt waren, haben wir uns davon wegentwickelt, denn das Selbst will manchmal Dinge, die rational vielleicht nicht erklärbar sind oder rational vielleicht nicht sinnvoll erscheinen. Darum gilt es zuerst einmal die Frage zu klären, was mein Selbst denn will? Welche Bedürfnisse hat mein Selbst ganz tief drinnen und welche dieser Bedürfnisse erfülle ich und welche erfülle ich nicht? Und aus welchen Gründen erfülle ich sie nicht?

Entscheidungen aus Vernunftgründen sind nicht immer die richtigen

In unserer Kultur lernen wir, dass wir vernünftig sein sollen, dass wir uns anpassen müssen – wir verlernen auf unsere eigene innere Stimme zu hören und treffen Entscheidungen viel zu oft aus einer Vernunft heraus. Wir geben uns mit Kompromissen zufrieden, mit denen wir uns nicht zufrieden geben müssten – wir haben einfach zu oft gesagt bekommen, bescheiden zu sein oder uns nicht so wichtig zu nehmen. Unserem Selbst tut das alles weh und diesen Schmerz, den stecken wir gut weg.

Oft merken wir ihn gar nicht mehr. Manchmal werden wir dann damit konfrontiert, wenn in unserem Umfeld etwas passiert, was uns berührt oder uns zum Nachdenken anregt. Solche Veränderungen im Freundes- oder Familienkreis – wie die Trennung oder ein Jobwechsel – können oft so etwas wie einen Domino-Effekt hervorrufen. Das passiert vor allem dann, wenn eine solche Veränderung im System etwas bei einer Person auslöst und triggert: wenn hier ein Wunsch des Selbst „erwischt“ wird, weil vielleicht in diesem Bereich schon länger etwas nicht in Ordnung ist.

Selbstverwirklichung heißt also auf die eigene innere Stimme im jetzt zu hören und mit dem Impuls, der dann da ist, etwas zu machen und das, was die innere Stimme sagt, in die Wirklichkeit umzusetzen. Und das müssen nicht unbedingt große Veränderungen sein. Es geht darum immer wieder nachzuspüren, was das Selbst denn möchte und braucht. Darauf nicht zu vergessen und es immer besser spüren zu können, das bedarf Übung.

Solche Impulse könnten zum Beispiel sein, sich mehr Zeit für sich selbst zu gönnen, wieder einmal etwas „Verrücktes“ zu machen oder seiner Kreativität mehr Raum geben, zu malen, zu singen oder zu kochen. Oder vielleicht ganz etwas anderes, etwas, bei dem der innere Impuls da ist, es zu tun. Das klingt jetzt einfach, werden Sie sagen, aber ganz so einfach ist das oft nicht. Denn die meisten von uns hören auf den inneren Schweinehund, eine Instanz, die genau solche Impulse sabotiert und sie einen nicht umsetzen lässt, weil es immer gerade einen guten Grund gibt es nicht zu tun…

Kleine Schritte bringen einen schneller vorwärts

Selbstverwirklichung hat also zuerst einmal mit der Umsetzung der kleinen Bedürfnisse im Leben zu tun. Oft glauben wir, dass nur die großen Schritte etwas zählen und uns weiterbringen. Was jedoch klein oder groß ist, liegt immer im Auge des Betrachters. Für den einen ist ein Jobwechsel eine kleinere Sache, für den anderen ist ein Jobwechsel eine unvorstellbar große Herausforderung. Für den einen ist regelmäßiger Sport eine Kleinigkeit, für den anderen eine Herausforderung, selbst wenn er es gerne tun möchte.

Unser Selbst hervorzubringen, liegt in unserer eigenen Hand. Und auch die Geschwindigkeit und die Qualität, in der wir es tun wollen, ist unsere eigene individuelle. Hier gibt es keinen Maßstab, an dem wir uns messen müssen. Es ist wichtig zu erkennen, dass das, was wir tun, was wir bei uns verändern, dass wir das für uns selbst tun und für niemand anderen. Vielleicht kommt es vor, dass jemand anderer etwas dagegen hat, dass wir auf unsere Selbst hören und das tun, was uns die innere Stimme gerade sagt.

Manchmal haben unsere Mitmenschen Angst, wenn sie sehen, dass sich etwas verändert, dass man sich selbst verändert oder der andere vielleicht auch gerne etwas für sich tun möchte, es sich aber nicht zugesteht. Hier hilft ein achtsamer Umgang mit dem anderen und Verständnis und ein klares Aussprechen dessen, was und warum das jetzt gerade für einen so wichtig ist. Manchmal kann es aber auch sein, dass ein innerer Impuls auch Angst macht.

Im Rahmen eines Selbsterfahrungsseminars habe ich gelernt, dass unsere Angst vor etwas manchmal auch verschleierte Lust auf etwas ist. Die Angst kommt dann daher, dass das Neue nicht einschätzbar und unbekannt ist. Angst vor Veränderung kann also zum Beispiel auch ganz tiefe innere Lust darauf sein, zu der wir nur schwer Zugang haben. Angst vor Bungee-Jumpen kann also auch bedeuten, dass ganz tief in uns drinnen ein Impuls ist, der gerne mal ein bisschen mutiger wäre oder sich auch gerne mal auf eine Grenzerfahrung einlassen möchte, aber eben Angst hat.

Ich habe aber auch schon erlebt, dass eine Klientin Angst davor hatte, eine neue Wohnung zu kaufen, obwohl sie in der alten Wohnung gar nicht mehr glücklich war: Angst davor, sich festlegen zu müssen, obwohl das genau das war, was sie bei ihrem Partner vermisst hatte und sich zutiefst gewünscht hatte…

Der Weg zur Selbstverwirklichung beginnt also mit vielen kleinen Schritten, mit Spüren, was einem gut tut, zu welchen Orten es einen hinzieht oder mit welchen Menschen man zusammen sein oder auch nicht zusammen sein möchte. Ein Schritt nach dem anderen. Im eigenen Tempo.

Was wird Ihr nächster Schritt sein?